Scheiß auf Kanon
Die Arroganz der Musikkritiker zeigt sich direkt zu Beginn eines Rolling Stone Artikels. 2019 schreibt das Magazin im Internet: „Die 50 besten deutschen Platten aller Zeiten.
Mit Kraftwerk, Can und Fehlfarben – und garantiert ohne Helene Fischer“. Der Kritiker unterteilt die Popmusik in gut und schlecht. In die hohe Popkultur und die niedere Popkultur, also Helene Fischer, die nur den Pöbel unterhält, und wer sich das reinzieht, kann sie ja nicht mehr alle haben. Ich nehme mich von dieser Haltung gar nicht aus. Aber wenn ich darüber nachdenke, ist es peinlich, Popmusik mit dem elitären Anspruch zu hören, als wäre es klassische Musik.
Dieser Versuch des Musikmagazins, einen Kanon der deutschen Popmusik zu finden, ist aber auch deshalb peinlich, weil die Redaktion des Rolling Stone es 2019 tatsächlich noch fertigbringt, 61 Musikjournalisten und 3 Musikjournalistinnen zu fragen, was sie für die besten deutschen Platten halten.
Der Kanon, der daraus entstanden ist, lässt sich leicht zusammenfassen: Sobald ein weißer Mann aus dem Westen eine Gitarre in die Hand genommen hat oder noch besser, den Synthesizer erforscht hat, ist es genieverdächtig und gehört kanonisiert. Die einzige Frau, die laut dieser Liste überhaupt etwas einigermaßen Annehmbares zustande gebracht hat, ist Annette Humpe mit der Gruppe „Ideal“. Diese Liste zeigt stellvertretend, dass die Pop-Kanonisierung in Deutschland ein Problem hat. Deshalb ist der Ansatz des Lieblingsplatten-Festivals ziemlich klug und viel passender. Denn Pop aus Deutschland braucht diese Art Kanon, wie es ihn bisher gibt, nicht.
Dass dieser existiert, auch ohne dass Pop-Institute, Musikmagazine oder Verlage ihn hochoffiziell bestimmen, weiß jeder, der sich länger als fünf Minuten für Musik interessiert hat. In meiner Jugend habe ich „Wir sind Helden“ und „Sportfreunde Stiller“ gehört und fand das völlig unproblematisch, weil ich mich damit wie eine Musikkennerin gefühlt habe. Mit dem Studium wurde das dann schlagartig anders. Ich habe angefangen, als Musikjournalistin zu schreiben, war auf vielen Konzerten und Festivals unterwegs und musste feststellen, dass in dieser Szene „Wir sind Helden“ und „Sportfreunde Stiller“ kein Mensch hörenswert fand. Ein bisschen zu populär waren sie wohl. Und Tomte, Kettcar – das ging vielleicht in den 2000ern noch, mittlerweile gehen die beiden Bands in Kennerkreisen aber höchstens noch als Jugendsünde durch. Anders als Blumfeld, Die Sterne oder Tocotronic. Sowieso Blumfeld. Hab ich nie verstanden, nie groß gemocht, aber mag man halt in der Szene. Was so viel heißt wie: Die gehören eben zum Pop-Kanon. Der wahre Musikkenner zeichnet sich aber durch sein übermäßiges Interesse an Krautrock-Bands aus. Die nennt er natürlich nicht Krautrock, weil er weiß, dass Can, Neu!, Kraftwerk, Harmonia nicht so viel von dieser Genre-Schublade halten.
Es ist möglich, diesen mündlich überlieferten Kanon, den sich Leute vor Konzerten stehend, immer wieder und wieder erzählen, aufzuschreiben. So lange Musikmagazine wie Musikexpress und Rolling Stone diesen rein männlich geprägten Pop-Kanon allerdings nur reproduzieren, braucht ihn kein Mensch, weil Popmusik in ihrem Wesen nicht ernst genug genommen wird, und dadurch wichtige Bands und Künstlerinnen fehlen. Das liegt daran, dass es in diesen Listen viel mehr um den Kritiker als um die Musik geht. Deshalb ist dieser inoffizielle Pop-Kanon, so wie er bisher zu existieren scheint, ein Widerspruch in sich. Kritiker versuchen eine Avantgarde herauszuarbeiten und suchen eine Art wahre Kunst, die eben gerade kein Pop sein will. Eine solche Kanonisierung etabliert eine Art zweite Hochkultur. Die Pop-Hochkultur. Und die blickt auf den eigentlichen Pop aus den Charts wie die Hochkultur auf den Pop. Verachtend. Und das ist schon absurd: Warum Popmusik hören, wenn man das populäre verachtet.
In diesem Pop-Hochkultur-Kanon geht es fast ausschließlich um den Geniekult. Gendern ist auch an dieser Stelle nicht nötig. Für den heiligen Pop-Kanon werden Künstler und Bands gesucht, die wegweisendes und künstlerisch übermenschliches zustande gebracht haben. Dass auch mal Punk auf so einer Liste vorkommt, ist dabei nur das Feigenblatt und die Vergewisserung, dass es auch mal rotzig sein darf. Eigentlich soll es aber so kompliziert und unzugänglich sein, dass der auswählende Kritiker sich seiner eigenen intellektuellen Größe vergewissert. Dass möglichst wenige diese Band oder den Solokünstler kennen dürfen, ist selbstverständlich. Das zeigt: Musikhören erfüllt nie nur den Zweck des reinen Hörens. Popkultur ist immer auch Distinktion. Und so verhält es sich auch mit diesen Listen. Es ist kein Zufall, dass die Leserlisten in den Musikmagazinen und die offiziellen Jahrescharts komplett anders aussehen als die Jahreslisten der Musikkritiker. Was Menschen wirklich hören und was Kritiker als wertvoll bestimmen, hat also wenig miteinander zu tun. Das Sterben der Musikmagazine lässt sich damit auch so erklären, dass kein Hörer und keine Hörerin mehr Lust darauf hat, sich von einem elitären Musikkritiker sagen zu lassen, dass der eigene Musikgeschmack minderwertig ist. Und deshalb sollte auch ein Pop-Kanon nicht auf gleiche Weise elitär ausfallen.
Vielmehr sollte ein Pop-Kanon mit einbeziehen, wie identitätsstiftend Popmusik sein kann. Manche Platten begleiten Generationen auch Jahrzehnte später noch, selbst wenn diese Alben musikalisch unterkomplex sind. Das Debütalbum der Band „Echt“ ist so ein Beispiel. Wer nur nach avantgardistischen Neuheiten sucht oder schlicht mit der eigenen Auswahl enorm angeben will, wird „Echt“ niemals in den Kanon aufnehmen. Dabei hat diese Platte eine ganze Generation geprägt. Popmusik steht immer auch im Zusammenhang mit der Zeit, in der sie erscheint, und damit für die Menschen, die in dieser Zeit jung sind. Es prägt sie, selbst wenn Kim Frank eigentlich nicht wirklich singen kann. Wer nur den Song sieht, nur das Album und nie den Kontext, der kann Popmusik eigentlich nicht mögen. Ein Kanon im Sinne eines Pop-Begriffs, der sich von der elitären Hochkultur abgrenzt, sollte auch solche Alben betrachten.
All das soll nicht heißen, dass Kraftwerk, Can, Neu! und all die anderen Bands, die in dieser Zeit ab Ende der 1960er Jahre dafür gesorgt haben, dass Musik aus Deutschland nicht nur US-amerikanischen Vorbildern hinterherhechelt, sondern auch eine ganz eigene Idee verfolgen kann, dass diese Alben vergessen werden sollten. Oder dass es arrogant ist, sie zu nennen. Aber die Geschichtsschreibung der deutschen Popmusik ist im vollen Gange, Bücher erinnern an diese Männer und diese Zeit und ihre Musik. Allzu detailversessene Listen, in denen es dann nur darum geht, welche Can-Platten nun wichtiger ist, lenken zu sehr davon ab, was ihnen eigentlich fehlt: Nämlich Frauen, Bands oder Künstler aus der DDR, Hip Hop oder auch Techno kommen bisher viel zu kurz.
Das liegt vielleicht auch an dieser Genie-Verehrung der Kritikerwelt. Es zeigt sich ziemlich deutlich, dass zum Kanon nur dazu gehören darf, wer seine Songs alleine schreibt. Dass die Popwelt anders arbeitet, sollte mittlerweile allerdings bekannt sein. Songschreiber treffen andere Sängerinnen und Produzenten und gemeinsam entstehen spannende Alben. Im Schlager war das schon immer so. Vermutlich ist diese Arbeitsweise aber ein Grund, warum Hildegard Knef viel zu selten bis nie auf den Listen der Musikmagazine auftaucht. Dabei gehört sie fest zur deutschen Popmusik, weil Schlager und Pop zusammengehören und sie alleine mit ihrer Einstellung und ihrem Sound mehr Pop als Schlager ist. Aus dem gleichen Grund sollten auch auch die „No Angels“ als erste Castinggruppe der Sendung „Popstars“ zum deutschen Pop-Kanon gehören. Natürlich ist das Prinzip ihrer Gruppe von den Spice Girls abgeschaut. Fünf Frauen, jede steht für einen anderen Charakter. Sie sind aber auch eine der wenigen Versuche, eine deutsche Girlgroup aufzubauen, die ein wenig internationaler klingt und die außerdem viel diverser ist, als die Indiemusikwelt in Deutschland es je war. Deshalb sind sie wichtig. Und alleine, weil ich lange das Gefühl hatte, nur hören zu dürfen, was der männlich geprägte Pop-Kanon mir vorschreibt, sollten auch die No Angels mit ihrem ersten Album auf die Liste. Zumindest für mich ist ihr erstes Album eine Lieblingsplatte.
Alleine mit diesem Namen macht das Festival also schon einiges richtig, weil es sich damit vom belehrenden Kritikerhabitus abgrenzt, der den Leuten sagt, was sie zu hören haben und was nicht. Oder sagt, dass das, was sie hören, nicht cool genug ist und sie es deshalb alles heimlich in Guilty Pleasure-Playlists packen müssen und die ultracoole Can-Platte neben irgendeiner B-Seite an die Zimmerwand hängen, um damit anzugeben. All das braucht Pop wirklich nicht mehr. Deshalb: Weniger Kanon. Mehr Lieblingsplatte.
Ina Plodroch
Das ist mein Kanon
(Und jetzt sag mir wer du bist)
1. Eigentlich mag ich das nicht: Jemand stellt einen Kanon zusammen, und alle sagen:
„Oh!“. Leute, die einen Kanon zusammenstellen, finde ich unsympathisch. Was ist die
Mehrzahl von Kanon? Jedenfalls: Kanons gehen mir auf den Keks.
2. Trotzdem lese ich jeden Kanon, den ich in die Finger bekomme.
3. Ich möchte deshalb nun nicht einen (oder noch schlimmer: den) Kanon
zusammenstellen.
4. Sondern meinen.
5. Diese Liste ist nicht dazu da, jemandem zu sagen, was er hören muss oder sollte.
Sondern um ins Gespräch zu kommen. Und Reaktionen zu provozieren.
6. Keine Vorschrift, keine Anmaßung, sondern Eröffnung des Dialogs: Diese 50 Platten
haben mehr mit mir zu tun als andere.
7. Natürlich ist jeder Mensch mehr als 50 Platten.
8. Aber irgendwie auch nicht.
9. Jedenfalls: Wenn ich 50 Platte wäre, dann diese.
10. Oder besser gesagt: Diese 50 Platten bin ich am 4. Dezember 2020 um 11.14 Uhr
gewesen. Da habe ich die Liste geschlossen. Heute wäre ich vielleicht eine andere Liste.
Eine andere Reihenfolge. Denn seit dem Moment, da ich die Liste geschlossen habe, ist
ja wieder Leben dazugekommen. Und Leben lagert sich in Musik ab.
11. Joan Didion sagt: „Wir kommen nicht um die Tatsache herum, dass Wörter auf Papier
zu setzen die Taktik eines verborgenen Tyrannen ist, der in die innerste Sphäre des Lesers
eindringt und ihm sein Empfinden aufzwingt.“
12. Bloß kein Empfinden aufzwingen. Keine Konsensentscheidung über die besten
Platten.
13. Das ist nun also mein Kanon. Und wer bist Du?
14. Es geht mir um Resonanz.
15. Resonanz bedeutet mitschwingen.
16. Falco sagt: „Herr President, wir kennen eine Sprache / Diese Sprache, die heißt
Musik.“
17. Das wäre etwas: EINE Sprache sprechen. Musik sprechen. Lieblingslisten wären in
dieser Sprache Dialekte und Akzente. Individuelle Färbungen. Die persönliche Note.
18. Mein Dialekt wurde in meiner Kindheit geprägt. Ich war allein mit meiner Mutter, und
meine Mutter hörte „Udo 80“, Leonard Cohen und Boney M. Ich weiß, dass sie den
Vortänzer und Sänger von Boney M. ziemlich gut fand. Nicht nur wegen seiner Stimme.
Und er ist ja auch wirklich gut. Jedenfalls hat mich seine Musik geprägt.
19. Geschmack ist keine bewusste Entscheidung. Der Pianist Gonzales spricht in diesem
Zusammenhang vom „musikalischen Paradies der Kindheit“. Man hört am besten, wenn
man arglos hört.
20. Gonzales schreibt das in seinem Buch über seine Lieblingskünstlerin. Sie heißt Enya.
21. Gonzales sagt: „Wer sich in seinen Vorlieben maskiert, beraubt sich der
musikalischen Unschuld und der Gänsehautmomente.“
22. Gonzales sagt auch: „Eine geschönte Liste ist wie gefälschte Papiere.“
23. Bis heute freue ich mich mehr, „Ma Baker“ zu hören als sagen wie mal irgendwas von
Pink Floyd.
24. „Ma ma ma ma / Ma Baker / She taught her four sons / Ma ma ma ma / Ma Baker / To
handle their guns.“
25. Das ist ja ohnehin ein Phänomen, von dem diese Liste erzählt. Dass man in einer
bestimmten Zeit besonders stark auf Musik reagiert. Dass sich das erste Mal festsetzt in
der Persönlichkeit. Das erste Mal Musikhören. Also, richtig Musik hören. Nicht nur mit den
Ohren, sondern vor allem da, wo Musik ankommt, wenn sie einem etwas bedeutet: mit
dem Bauch also und mit der Stelle zwischen Bauch und Brust. Da, wo es kribbelt oder
drückt. Wo der Auslöser ist, der einen erst schmunzeln und dann sagen lässt: Ey, hör mal!
26. Kanons hört man am besten mit denen, zu denen man am liebten sagt: Ey, hör mal!
27. Überhaupt ist für die Entstehung eines Kanons nie nur eine Person verantwortlich.
Sondern auch diejenigen, zu denen diese eine Person besonders häufig gesagt hat: Ey,
hör mal!
28. Deshalb an dieser Stelle: Ey, Danke, Mama, Sandra und Bert!
29. Kanons sind etwas Intimes. Es gehört Mut dazu, vor jemandem seinen Kanon
auszubreiten. Als ich bei ebay meinen alten iPod verkaufte, fragte der Käufer, ob ich die
128 Gigabyte Musik, die auf dem Gerät waren, nicht einfach drauflassen könne. Konnte
ich nicht. Wollte ich nicht. War keine schöne Vorstellung, irgendwie. Ich kannte den Kerl ja
gar nicht.
30. Die schönste Musik ist die, die man hören möchte, wenn man mit Kopfhörern im Bett
liegt und den Arm über die Augen legt.
31. Und die beste Musik ist die, die nachklingt, wenn man den Arm wieder von den Augen
nimmt und die Welt erstmal noch ein bisschen undeutlich und verschwommen sieht.
32. Auf Platz eins steht eine Platte, die ich bei einem Mailorder bestellte, weil ich das
Label so mochte, auf dem sie erschien: Marsh Marigold aus Hamburg. Dort wurde
Gitarrenpop verlegt. Der wurde oft von Anorak tragenden Jungs gesungen, die eine
Einstellung zur Welt kultivierten, die man am besten mit einem englischen Begriff auf den
Punkt bringt: happy to be sad.
33. Es ging in diesen Liedern meistens um das Anschmachten und Nicht-Erhörtwerden.
Wobei das Anschmachten per se so angelegt war, dass recht bald klar wurde, da will
jemand gar nicht erhört werden.
34. Meine deutsche Lieblingsplatte stammt also von Busch, es ist das Debüt dieser Band,
und das erste Lied ist für mich das schönste überhaupt, und es beginnt so: „In einem
Franziskanerkloster schreibe ich meine Memoiren / über Dinge, die mir wichtig waren.
Irgendwo in den Vogesen. / Würdest du es bitte lesen? / Hier in diesem kleinen Kloster
unter meinem Ché Guevara Poster / schreibe ich, was niemand hören will.“
35. Ich sage ja: Es gehört Mut dazu, seinen Kanon auszubreiten.
36. Nicht beeindrucken.
37. Lieber zum Schmunzeln bringen.
38. Ich muss schmunzeln, wenn ich „Musique Non Stop“ von Kraftwerk höre. Weil ich
mich daran erinnere, wie mich das Stück faszinierte, als ich ihm 1986 in der
Fernsehsendung „Formel Eins“ zum ersten Mal begegnete. Und vor allem muss ich
schmunzeln, weil ich mit Bert, der es auch gesehen und gehört hatte, in seinem
Jugendzimmer darüber sprach.
39. „Kraftwerk, ey!“
40. „Trans Europa Express“ ist sicher die bessere Platte. Aber erst das Album „Electric
Café“ hat mir die Tür zum Werk von Kraftwerk geöffnet. Erst durch diese Platte habe ich
begriffen, wie toll „Trans Europa Express“ ist. „Electric Café“ ist deshalb „meine“
Kraftwerk-Platte.
41. Und „Fragezeichen“ ist meine Nena-Platte. Wenn ich den Namen Nena höre, denke
ich sofort: „Dein Auto fährt zu schnell, weil du auf der Reise bist“.
42. Und wenn ich den Namen Hildegard Knef höre, denke ich: „Im 80. Stockwerk / In dem
Haus, das es nicht gibt / In der Stadt, die es nicht gibt / Wird ein Mädchen steh’n.“
43. Und wenn ich den Namen Udo Jürgens höre, denke ich, dass keiner heute mehr so
textet, und ich denke, wie schade das ist: „Ich will, dass endlich etwas Neues beginnt /
Dass wir wie ein Gedanke, ein Körper sind / Das ist mein Ziel / Sag’ mir nur eins / Will ich
zu viel?“
44. Lieblingslieder sind die Lieder, die man mitsingt oder -summt, obwohl sie gerade gar
nicht im Radio laufen. Man hört sie, obwohl niemand sie angestellt hat. Sie sind einfach
da. Wie gute Freunde.
45. Ich habe beim Zusammenstellen gemerkt, dass es nicht so leicht ist, sich auf Alben
festzulegen. Viele Künstler aus Deutschland, die wichtig sind für mich, haben es gar nicht
bis zum Album gebracht. Die Jesterbells aus Hamburg etwa. Und
viele Lieder, die ich zuletzt sehr mochte, weil sie Anlässe boten, mich mit meinem Sohn
zum ersten Mal über Lieblingsmusik zu unterhalten, sind ebenfalls auf keinem Album. „Ayo
Technology“ von Kynda Gray und Rin etwa. Oder „Heartbreakerei“ von Fuffifufzich.
46. Kraftwerk sagt: „Es wird immer weitergehen, Musik als Träger von Ideen.“
47. Aber das soll ja kein Monolog werden.
48. Wer im Kanon singt, ist nicht alleine.
49. Das hier bin also ich. Das sind die Lieder, bei denen ich mich gut fühle. Bei denen ich
mich fühle.
50. Und wie fühlst Du Dich?
Philipp Holstein
Graue Wolken (Blumfeld) // Angebot für einen Kanon deutscher Pop-Musik
Die Frage nach einem Kanon deutscher Pop-Musik, also nach einem Konsens darüber, was der Kern eines allgemein gültigen Wissensstandes über Pop-Musik aus Deutschland zu sein hat, ist ebenso spannend wie überfällig.
Im Film und in der Literatur gibt es solche Listen, und sie sind, auch wenn man stets über jede Liste auch geteilter Meinung sein kann, zum Beispiel Grundlage für Lehrpläne in Schulen. Kurz gesagt bedeutet die Einigung auf einen Kanon, dass man eine Anzahl an Büchern gelesen und an Filmen gesehen haben muss, um im Sinne einer „Allgemeinbildung“ diskursfähig mitreden zu können.
Ansätze zu einem Kanon deutscher Pop-Albumveröffentlichungen hat es in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben. Das waren vor allem Listen, die in Zeitschriften wie Sounds, dem Musikexpress, dem deutschen Rolling Stone oder vor allem der Spex angeboten wurden und teilweise stark vom Zeitgeist oder vom persönlichen Geschmack der jeweiligen Autoren geprägt waren. Ich möchte mit diesem Text ein Angebot liefern, wie ein solcher Kanon aussehen könnte, wenn er dem Leitmotiv der Avantgarde folgt, also dem Voraussein seiner jeweiligen Zeit. Musik hat dann immer Herzschrittmacher zu sein, Treiber, Inkubator.
Es gibt freilich Handicaps. Müsste ein Kanon deutscher Pop-Musik nicht auch die Musik von im Exil lebenden Musikern berücksichtigen? Oder, noch naheliegender, Musik aus allen anderen Ländern selbstverständlich mit einbeziehen, wenn sich ein Bezug zur Bundesrepublik herstellen lässt? Mit einem Mal wären Laibach, Falco und auch Yello mit im Spiel. Und was ist mit Instrumentalmusik, sprich: mit Elektronika und Techno? Und schließlich: Wie gehen wir mit höchst einflussreicher Genre- oder „Nischen“-Musik um, die wie die Musik von Peter Brötzmann bis heute nur eingeschränkte Hörerkreise erreicht?
Aber leben wir nicht längst im Zeitalter des Longtail, das ja eines der prägendsten Zeichen unserer Zeit darstellt: Nämlich, dass all diese Kriterien gleichwertig nebeneinander stehen. Im Longtail stehen wenige, nur vermeintlich relevante Mainstream-Bestseller einem unübersichtlichen Strom an kleinen, mittelgroßen und kleinsten Veröffentlichungen gegenüber, die aber in der Summe ein Vielfaches der Bestseller umsetzen. Erfolg bedeutet nicht gleich Nominierung, Misserfolg nicht gleich Nicht-Nominierung.
Und genau all diese Hürden geben der Frage nach einem Kanons der Avantgarde also einer Liste der wahren Influencer, einen riesigen Resonanzraum.
In der Berliner Spex (und zuvor auch in der Spex mit Diedrich Diederichsen) waren wir Autoren stets auf der Suche nach Phänomenen, die über sich selbst hinausweisen, sich gewissermaßen selbst transzendieren — beispielsweise im Unterschied zum alljährlichen Sommeralbum, auf das sich alle einigen können.
In meinem Vorstoß für einen Kanon moderner deutscher Pop-Musik finden sich daher einige Alben, die überraschen mögen, sich aber letztlich nicht auf meinen Geschmack zurück führen lassen, sondern stets auf der Überzeugung basieren, dass diese Werke stilbildend und einflussreich für die Szene der Sänger, Musiker und Produzenten ihrer Zeit und darüber hinaus waren — eben jene Künstler, die ihrerseits am Kanon der Zukunft arbeiten. Ganz im Sinne von Peter Hein, der in „Es geht voran“ (1980) die — natürlich! — allgemein bekannten Zeilen singt: „Keine Atempause / Geschichte wird gemacht / Es geht voran!“
Fehlfarben, wie auch Kreidler, Blumfeld, Mutter, Mouse on Mars, Die Goldenen Zitronen und etliche andere Bands sind im Zakk Düsseldorf bereits aufgetreten und haben jeweils ein Schlüsselalbum aus ihrer Diskografie gespielt. Dieses Jahr sind mit Palais Schaumburg, Faust und Die Nerven gleich drei Bands dabei, die zweifellos in einen Kanon deutscher Musik aufgenommen gehören. Ein Festival dieser Art über die Jahre beharrlich fortzuführen und dabei auch Rücksicht auf den Konsens eines Publikumsgeschmacks ist eine bewundernswerte Gratwanderung. In meiner chronologisch sortierten Liste fehlen indes einige Publikumslieblinge (Tocotronic, Element of Crime, Fantastische Vier, u.v.a.m.), und von jedem Künstler/Band gibt es nur eine Nennung. Ich frage mich: Welche Frauen habe ich vergessen?
Angebot eines Kanons deutscher Pop-Musik:
Karlheinz Stockhausen: Gesang der Jünglinge im Feuerofen (1962)
The Monks: Black Monk Time (1964)
Nico: Chelsea Girl (1967)
Peter Brötzmann Octet: Machine Gun (1968)
CAN: Tago Mago (1971)
Neu!: Neu! (1972)
Ton Steine Scherben: Keine Macht für Niemand (1972)
Faust: Faust IV (1973)
Udo Lindenberg: Ball Pompös (1974)
Kraftwerk: Autobahn (1974)
Scorpions: Lovedrive (1979)
Yello: Solid Pleasure (1980)
Asmus Tietchens: Nachtstücke (1980)
Abwärts: Computerstaat (1980)
Fehlfarben: Monarchie und Alltag (1980)
DAF: Alles ist gut (1981)
Palais Schaumburg: Palais Schaumburg (1981)
Trio: Trio (1982)
Falco: Einzelhaft (1982)
Einstürzende Neubauten: Zeichnungen des Patienten O.T. (1983)
Nina Hagen: Angstlos (1983)
Spliff: Schwarz auf Weiß (1984)
KMFDM: What Do You Know Deutschland? (1986)
Stephan Remmler: Keine Sterne in Athen (1986)
AG Geige: Yacht & Buchteln (1987)
Laibach: Opus Dei (1987)
Kolossale Jugend: Heile Heile Boches (1989)
Die Erde: Kch Kch Kch (1989)
Cpt. Kirk &: Reformhölle (1992)
Mutter: Du bist nicht mein Bruder (1993)
F.S.K.: The Sound of Music (1993)
Von Spar: Die uneingeschränkte Freiheit der privaten Initiative (1994)
DJ Koze: Kozi Comes Around (1995)
Alec Empire: Low on Ice (1995)
Basic Channel: BCD (1995)
Mouse on Mars: Iaoha Tahiti (1995)
Kreidler: Weekend (1996)
GAS: Zauberberg (1997)
Pole: Pole 2 (1999)
Blumfeld: Testament der Angst (2001)
Bohren und der Club of Gore: Black Earth (2002)
The Aim of Design Is to Design Space: The Aim of Design Is to Define Space (2005)
Alva Noto: Xerrox Vol. 1 (2007)
Niels Frevert: Du kannst mich an der Ecke rauslassen (2008)
Ja/Panik: The Taste and the Money (2008)
Goldene Zitronen: Die Entstehung der Nacht (2009)
Kristof Schreuf: Bourgeois With Guitar (2010)
Efdemin: Chicago (2010)
Diamond Version: CI (2014)
Scooter: The Fifth Chapter (2015)
Hell: Zukunftsmusik (2017)
Capital Bra: Berlin lebt (2018)
Die Nerven: Fake (2018)
Igor Levit: Complete Beethoven Piano Sonatas (2019)
Meine Liste versammelt, so streitbar lückenhaft sie sein mag, ausschließlich Avantgardisten. Jeder Sänger, jede Band hat den deutschen Pop-Musikbegriff entscheidend erweitert. Zu fast jeder Nennung gibt es eine (oft viel bekanntere) Platte eines anderen Künstlers, die unerwähnt bleibt, weil vielleicht nur etwas zuvor neu Formuliertes weiter ausdifferenziert wurde.
Über die meisten Alben dürfte Konsens bestehen. Wären Mehrfachnennungen erlaubt, würden Kraftwerk oder die Einstürzenden Neubauten mehrfach auftauchen. Widmen wir uns also den Überraschungen.
Warum Spliff? Mit ihrem Album „Schwarz auf Weiß“ schufen Spliff eine Art neuen Typus des deutschen Pop-Songs. Stücke wie „Bahnhofshotel“, „F# Kuss“ oder „Sirius“ entwerfen in Lyrik und Sound eine eigenständige, radiotaugliche Alternative zum deutschen Pop-Mainstream der Achtzigerjahre and beyond. Die in ihrem Auftreten oft uncoole Band löste sich 1984 auf, ihr Weckruf verhallt ungehört, doch warte ich auf die Band, die ernsthaft an die Utopien dieses Albums anknüpft. Und kosmischer als Ideal waren sie allemal.
Warum Laibach? Früher als fast alle anderen lieferte die slowenische Band Laibach, zugleich Teil des Künstlerkollektivs Neue Slowenische Kunst (N.S.K.), noch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs 1987 mit „Opus Dei“ einerseits den Blueprint für Bands wie die affirmativen Rammstein, vor allem aber revolutionierten sie das Selbstverständnis, mit dem Bands fortan mit Strategien aus der bildenden Kunst erfolgreich agieren konnten. Ihr Hit „Geburt einer Nation“ war nichts weniger als die geniale Eins-zu-Eins-Übersetzungen von Queens „Birth of a Nation“.
Warum Peter Brötzmann? Wenn du bereits alles im Leben gehört hast, wird dich dieses Album auch heute noch aus dem Konzept bringen. Peter Brötzmanns Octet erreicht eine Dynamik, die zuvor ungehört war. Und auch über ein halbes Jahrhundert nach seinem Release, zu Deutsch: seiner Entfesselung via Veröffentlichung, ist diese Musik dringlich wie nie.
Warum Niels Frevert? Bereits mit seiner Band Nationalgalerie schaffte es der Hamburger Sänger und Bandleader, eine Bewunderung für angloamerikanische Musik in eine eigenständige deutschsprachige Form zu gießen. Nichts ist schwerer als das! Auf „Du kannst mich an der Ecke rauslassen“ bringt Frevert seinen Stil zu einem geschmeidigen Höhepunkt, mit „Niendorfer Gehege“ seine Lyrik auf eine Ebene des Persönlichen, die ihresgleichen sucht.
Warum die Scorpions? Ja, sie haben zur Wiedervereinigung den Song „Winds of Change“ verbrochen, aber zumindest „Lovedrive“, wie übrigens alle Alben von CAN selbstverständlich in englischer Sprache aufgenommen, war 1979 mehr als nur zeitgemäß. Es stellte, wie einige Alben von CAN, Kraftwerk oder Faust zuvor, klar, dass Musik von hier, nun ja, auch international relevant sein konnte.
Warum Scooter? Die Frage erübrigt sich. Wer damit ein Problem hat: PM me!
Ein Problem für einen bis heute fehlenden Kanon deutscher Pop-Musik liegt in der Diskontinuität der deutschen Geschichte. Die Diktatur der Nationalsozialisten zerstörte jedes diskursive, aufeinander aufbauende Wachsen einer eigenständigen, modernen Popkultur. Wenn sie es konnten, wanderten die betroffenen Künstler aus. Wenn sie es nicht konnten, wurden sie ermordet. Nach dem Krieg war das seiner Kultur beraubte Land zudem durch die Mauer kulturell zweigeteilt. Was sich aus diesen Trümmern ab den Sechzigerjahren erhob, konnte definierte sich in Bewunderung, Auseinandersetzung oder Ablehnung auf das Andere, nicht auf das Eigene, das es nicht mehr gab. Die Ergebnisse waren maximal unterschiedlich. Heute ist die Welt digitalisiert, alle kommunizieren mit allen, alles ist informiert von allem.
Wie wäre es, den Vorschlag eines Kanons der Avantgarde als mehr als abendfüllende, Playlist zu begreifen? Wer sich die Mühe macht, und die genannten Alben eines nach dem anderen von Anfang bis zum bitteren Ende durchzuhört, wird mir vielleicht Recht geben, dass die Essenz deutscher Pop-Musik sich im Kern immer im Spannungsfeld zwischen Klassischer Musik und Blues bewegt hat. Die elektronische Musik hätte in diesem Sinne Karlheinz Stockhausen viel zu verdanken, und Capital Bra wäre ohne den Blues und den Funk und den HipHop nicht denkbar. Eine Frage zum Schluss: Wenn das beste deutsche Pop-Album des Jahres 2019, eine zeitgemäße, weil radikale Interpretation aller Klaviersonaten von Beethoven, von dem russisch-deutschen Juden Igor Levit stammt, wie vielfältig sind dann die Perspektiven für die Zukunft?
Ernstgemeinte Nachträge für von mir vergessene Sängerinnen nehme ich gerne entgegen. Balbina wird schon jetzt abgelehnt. Über Sarah Connor können wir gerne reden.
Max Dax
Im Dezember 2019